Wien - Uschhorod (Ukraine): 439km Wien - Bregenz (Vorarlberg): 500km
Eine liebe Freundin kam zum Kaffee trinken zu mir. Und das Thema Ukraine ist auch aus lapidarem Mama-Kaffee-Klatsch nicht rauszuhalten. Als sie davon begonnen hat zu sprechen, habe ich beobachtet, wie an ihrem Hals sofort rote Flecken entstanden sind, die sich immer weiter ausgebreitet haben, bis ihr die Tränen in den Augen standen.
Wie kann man all dieses Leid ertragen? Wie können wir noch in Ruhe in unserem warmen Bett schlafen, während andere nicht wissen, wo sie die nächste Nacht schlafen werden? Ob sie ihren Papa, der gerade kämpft, je wieder sehen?
Und warum gibt es Menschen, denen das offensichtlich nicht so nahe geht? Wie können manche noch immer gut schlafen?
Meine Freundin ist, wie geschätzte 10-15% der Bevölkerung, eine hoch empathische Person. So hoch ausgeprägt, dass Sie vermutlich mehr Spiegelneurone besitzt als durchschnittliche Menschen. Was einer der Gründe dafür ist - und zwar ein ganz banaler - dass sie empathischer ist, als andere Menschen. Dass sie mehr spürt, aber auch mehr (mit-)leidet.
Sie ist einer dieser Menschen, die selbst körperliche Schmerzen hat, wenn sie ein "lustiges" Video von jemanden mit einem BMX-Unfall sieht. Sie lacht nicht, wie manch andere/r, ihr zieht es alles im Bauch zusammen.
Diese hohe Empathie, hohe Sensibilität (ich möchte jetzt bewusst nicht von Hochsensibilität sprechen, denn das wäre ein anderes Thema. Hochsensibilität bezieht sich generell auf Reize, wohingegen sich Empathie auf Mitgefühl bezieht.) ist eine Gabe, aber auch eine Last.
Vor allem wird die Empathie zur Last, wenn sie mit Besorgtheit kombiniert wird. Rein statistisch gesehen, korrelieren diese Persönlichkeitseigenschaften miteinander - also ist das auch gar nicht unwahrscheinlich. Die Kombination der beiden Eigenschaften ist aber für Betroffene nicht einfach. Gehirnphysiologisch ist Besorgtheit etwas, was mit einer erhöhten Erregbarkeit der Amygdala einhergeht.
Die Amygdala ist das Zentrum der Gefühle, der Emotionen. Vor allem für die Angst spielt die Amygdala eine große Rolle. Denn, wenn die Amygdala besonders erregt wird, dominiert sie unser Denken. Wir sind dann im Fight-or-Flight Modus gefangen - also kämpfen praktisch innerlich um unser Leben, so als wenn wir selbst aus der Ukraine flüchten würden.
(Nerd-Modus 🤓: Sogar das Oxytocin-Level (auch Kuschel- und Bindungshormon genannt) beeinflusst die Sensitivität der Amygdala. Je mehr Oxytocin, desto sensitiver reagieren wir auf Furcht-Reize. Das erklärt u.a. warum Mütter besorgter sind als vor ihrer Schwangerschaft - und Männer generell furchtoser sind als Frauen. Evolutionär total sinnig: Denn wer Kinder hat, soll sich um deren Überleben sorgen. Sonst sterben wir schließlich aus. (Marsh, 2016, 2018; Wang et al., 2017; Leppanenet al., 2017; Hubble et al., 2017))
Zurück zur Funktion und größtem Problem mit der Amygdala. Die Amygdala kann nicht zwischen Realität und Fantasie unterscheiden. Der Gedanke, wie es wäre jetzt alleine mit den eigenen Kindern auf der Flucht zu sein, ist für die Amygdala gleichgesetzt, als wenn es wirklich passieren würde.
Das heißt, allein der Gedanke an diesen Krieg versetzt unser Gehirn selbst in den Kriegs-Zustand (Fight-or-Flight Modus). Unser Gehirn will unser Leben retten, als wären wir selbst in akuter Gefahr.
Der Gegenspieler der Amygdala ist der präfrontale Kortex. Dieser sitzt ganz vorne, hinter unserer Stirn. Vielleicht kommt daher der Spruch einen kühlen Kopf zu bewahren. Denn die Aktivierung des präfrontalen Kortex, sich in das Hier und Jetzt zurückzubringen, beruhigt die Amygdala. Deswegen funktionieren wissenschaftlich erwiesen auch lustige Katzen-Videos gegen Angst und Stress.
Für Menschen mit einer weniger verstrickten Mischung aus zu vielen Spiegelneuronen und zu dominanter Amygdala könnte dieses Schaubild helfen, sich von aufkommenden Sorgen zu befreien:
Dieses Schaubild ist dem Buch "Sorge dich nicht, frage!" von Gaur Gopal Das nachempfunden. Als ich meiner Freundin davon erzählt hat, hat sie laut aufgelacht und gesagt, "Ja klar! Wenn es so einfach wäre, würde ich das eh tun."
Für hoch emotionale Menschen ist dieses Schaubild ein Schlag ins Gesicht.
Und damit hat sie Recht. Diese Art von Bewältigungsstrategie ist etwas für Menschen, mit einem sehr starken präfrontalen Cortex - oder anders ausgedrückt, für Leute, die sehr geübt darin sind, ihre Emotionen zu beherrschen. Die sehr rational sind und Gefühle generell gut ausblenden/verdrängen/bewältigen/steuern können.
Aber, auch für die hoch emotionalen Menschen, gibt es Lösungen. Eine bewährte Form ist ein "Fingerspiel", das man sich zur Gewohnheit machen kann, wenn man bemerkt, dass man in Sorge gerät. Es geht so.
Man sagt sich diesen Satz fünf mal. Jedes Mal mit der Betonung auf ein anderes Wort. Das klingt dann so:
KANN ich das jetzt lösen?
Kann ICH das jetzt lösen?
Kann ich DAS jetzt lösen?
Kann ich das JETZT lösen?
Kann ich das jetzt LÖSEN?
Wenn man nun fünf mal "Nein" antworten muss (oder darf), dann darf man diese Sorge weiter ziehen lassen - denn wir haben sie - ganz rational und nüchtern mit der Hilfe unseres präfrontalen Kortex - analysiert. Und genau das ist einer der Hacks zur Aktivierung des präfrontalen Kortex. Analysieren, etwas genau betrachten, rechnen, etc. Das lenkt die Aktivität in unserem Gehirn um - vom heißen System in das kühle System. Mehr dazu gerne in dem Buch Slow and Fast Thinking von Daniel Kahnemann, der für dieses Konzept sogar den Nobelpreis bekommen hat.
Aber ich möchte nicht zu weit vom Kernthema meiner Beiträge - Gewohnheiten - abweichen. Also stellt sich die Frage: Wie kann ich mir eine Gewohnheit aufbauen,
die mich im Sorgen-Notfall zuverlässig zurück zu mir selbst bringt? Eine
Gewohnheit, so zuverlässig wie morgens die Zähne zu putzen?
Wie schaffen wir es also so ein neues Denkmuster zu verankern?
Ein erster Schritt ist, z.B. ein Post-it mit der Frage an einem prominenten Ort aufzuhängen. Dem Badezimmerspiegel, unter dem Bildschirm, neben der Kaffeemaschine, an der Toiletten Türe, etc. Das heißt sich selbst immer wieder Triggern, immer wieder Erinnern.
Dieser Post-It kann und sollte von Zeit zu Zeit auch umgehängt werden - denn wir neigen für solche Dinge irgendwann blind zu werden (eine Form des Energiesparmodus unseres Gehirns).
Wer es digitaler mag, kann auch die Frage im Bildschirmhintergrund vom Smartphone oder Laptop/PC einbauen.
Der zweite, wichtige Schritt ist, sich
immer zu freuen, wenn man diese
Frage erfolgreich durchgespielt hat. Hä? Sich freuen? Ja! Sich selbst "Yes!" sagen, eine Siegerpose einnehmen, die Faust in die Luft strecken, breit Grinsen, Tanzen, etc. Alles ist erlaubt. Aber bitte wirklich machen! Warum?
Weil Gewohnheiten sich nur dann aufbauen, wenn es sich aus Sicht unseres Gehirns "lohnt". Und lohnen tut sich nur das, was sich gut anfühlt.
Mit Sorgen gut umzugehen hat zwar bereits einen gewissen Belohnungseffekt mit eingebaut, aber je belohnender eine Tätigkeit ist, desto schneller und tiefer wird sie eingespeichert. Dabei ist unserem Gehirn mal wieder völlig egal, ob wir die Belohnung "spielen" oder ob sie natürlich erfolgt. Hauptsache die richtigen Botenstoffe (Serotonin, Dopamin) werden ausgeschüttet.
Also, warum sich nicht dieses Kniffes bedienen und das eigene Gehirn austricksen?
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Wer hat's geschrieben?
Julie Simstich, Expertin für Verhaltenspsychologie
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